Übertönt vom Lärm des Ukrainekriegs und anderer menschengemachter Katastrophen, spielt sich in Haiti eine noch nie dagewesene Tragödie ab. Die Regierung hat abgedankt, statt ihrer herrschen bewaffnete Gruppen, die ungestraft morden, plündern und vergewaltigen. Die Hauptstadt Port-au-Prince ist zur No-Go-Area geworden, in der niemand seines Lebens sicher ist. Allein im letzten Halbjahr waren 2400 Mord- und 951 Entführungsopfer zu beklagen, die Grenze zwischen Gangstern und Polizei ist fließend, Letztere zahlenmäßig unterlegen und schlechter ausgerüstet als ihre Gegner, und die Aufklärung des Mordes am ungeliebten, aber demokratisch gewählten Staatschefs Moïse im Juli 2022 tritt auf der Stelle.
Alle wollen weg von hier, so schnell wie möglich und egal wohin, und die Flucht der Boat People unter Baby Doc sowie den nachfolgenden Militärregimes wirkt überschaubar im Vergleich zum Massenexodus von heute, der alle Schichten erfasst, von Haitis selbst ernannter Elite über die Mittelklasse bis zu Slumbewohnern und armen Bauern.
Nur eine Hand voll Oligarchen, die grenzüberschreitend operieren und von der Gesetzlosigkeit profitieren, harren in Haiti aus, wo sie den Schmuggel von Waffen, Drogen und sogar den Benzinpreis kontrollieren – Parallelen zur Clankriminalität anderswo in der Welt liegen auf der Hand, zumal viele Oligarchen libanesischer Herkunft sind.
„Als ich aufstand heute morgen, waren die Straßen voller Blut“, sang einst der Voodoo-Rock-Star Richard Morse. Die Realität hat seine Horrorvision eingeholt und den Stadtbezirk, in dem das von ihm geleitete, legendäre Grand Hotel Olofsson liegt, unbewohnbar gemacht. Haitis populärster Schriftsteller Gary Victor musste sein Haus in Carrefour-Feuilles fluchtartig verlassen, als Jugendbanden dort Feuer legten. Er wohne jetzt bei Verwandten und sei privilegiert gegenüber denen, die in Kirchen oder Schulen Zuflucht suchten und in Zelten schliefen, sagte er kürzlich in einem Interview. „Nach sechs traut sich niemand mehr vor die Tür, und die Polizei schießt mit Tränengas auf Demonstranten, die gegen die Untätigkeit der Behörden protestieren. Jeder Minister wird von einem Großaufgebot Polizisten beschützt, während kriminelle Gangs um die Kontrolle lukrativer Stadtteile kämpfen.“ – „Und woher kommen die Bandenmitglieder?“ – „Aus den Slums wie früher die Tonton Macoutes von Papa Doc sowie die Schlägertrupps von Ex-Präsident Aristide. Sie werden mit Drogen und Geld geködert oder unter Entführungsopfern zwangsrekrutiert. Wie afrikanische Kindersoldaten schießen sie auf alles, was sich bewegt. Unterdessen sonnen sich UN-Funktionäre am Strand.
“ Wer sind die internationalen Akteure, die tatenlos zuschauen, nein, wegschauen, wie Haiti den Bach heruntergeht und die politische Krise zur humanitären Katastrophe eskaliert? An erster Stelle Washington als ehemalige Schutzmacht, aber auch Paris, aus dessen Kolonialregime sich Haiti schon früh befreite, und Montreal, wo mehr haitianische Ärzte praktizieren als im Herkunftsland. Seit Monaten verlangt Antonio Guterres die Entsendung einer robusten Eingreiftruppe, um den Bandenterror zu beenden, aber der letzte UN-Einsatz unter Federführung Chiles und Brasiliens ist in unguter Erinnerung, und die Zeiten, als Südamerika Haitianer aufnahm, die jetzt die mexikanisch-amerikanische Grenze belagern, sind vorbei. Der Präsident des Nachbarlands, Abinader, will quer durch Hispaniola eine Mauer bauen, um Arbeitsuchende aus Haiti abzuschrecken vom Betreten der Dominikanischen Republik, und die karibische Staatengemeinschaft Caricom ist so ratlos wie Kenia, das zu intervenieren versprach, nach Entsendung einer Kommission aber davon Abstand nahm. Kein Wunder, denn die demokratisch nicht legitimierte Regierung des Ex-Premiers Ariel Henry, der seit der Ermordung seines Vorgängers provisorisch amtiert, ist ebenso zerstritten wie Haitis Opposition, die sich nicht einigen kann und will, ob sie ein Eingreifen von außen befürwortet oder nicht.
HANS CHRISTOPH BUCH, FAZ 23. September 2023